Es geht um die letzten Jahre der Else Lasker-Schüler in Jerusalem.
Die Journalistin und Autorin Anne Overlack, die über Lasker-Schüler promovierte, schreibt dazu:
Gleichzeitig beschreibt Christa Ludwig die Entourage von Lasker-Schüler, ihre Freunde und die um ihr Wohl so rührend besorgten Verehrer. Damals lebte man noch in einer Welt, in der Lyrik-Liebhaber ihre Leidenschaft für ein großes Gedicht bereitwillig auch auf dessen Schöpferin übertrugen. Der junge Verehrer, der Lasker-Schülers Kladden an sich nimmt und zunächst wohl beabsichtigt, sie herauszugeben, unterbricht die „autobiografischen“ Notizen der Autorin jeweils durch beschreibende und einordnende Kommentare, die dem Leser helfen sollen, in das Jerusalem der vierziger Jahre hineinzufinden. Wie lebten Araber und Juden damals miteinander? Wie verhielten sich die Briten? Wie gefährdet waren selbst die Juden, denen die Flucht aus dem Dritten Reich bereits gelungen war? Hier scheinen Tragödien auf, an denen nicht nur die fiktive Figur der Dichterin nachvollziehbar leidet. Und die Darstellung dieses Zeit-Kolorits und der Probleme, die es in Palästina damals gab (durch die Augen der Dichterin gesehen und dann wieder trocken kommentiert in den Notizen des Herausgebers), ist für mich ein wichtiger, nicht nur nebensächlicher Handlungsstrang.
Insgesamt gelingt der Autorin ein überzeugendes Zeit-Panorama, in dem die alternde Dichterin, die davon träumt, noch einmal ein vollendetes Liebesgedicht schreiben zu können, eine traurig-anrührende Rolle als die Seele aller Verzweifelten spielt.
Ausgezeichnet mit dem Eichendorff-Literaturperis 2019
Das Bücher Magazin fasst das Buch zusammen mit:
Eindrucksvolles und höchst kunstvolles Porträt einer eigenwilligen Dichterin, die Poesie und Leben radikal vereinte.
In seiner Bewertungsskala gibt das Magazin dem Buch höchste Punktzahl und das Label 'Grandios'.
Details:
Essay über die Entstehung des Romans: Knopfgedichte
Hier ein Ausschnitt aus dem Buch, der aus einer Kindheitserinnerung der Lasker-Schüler entstand:
Joseph hieß der glänzende, schwarze Knopf, nachtschwarz mit goldenen Punkten, mit goldenen Punkten wie Sterne.
Meine liebe Mutter hatte mir das Kästchen mit den Knöpfen geschenkt. Unter Schnörkeln aus poliertem Holz hausten
die Abgerissenen, die Herabgefallenen oder jene, die ihr fadenscheinig gewordenes Kleidungsstück überlebt hatten.
Die meisten waren runde Scheiben aus Holz mit zwei oder vier Löchern. Das waren die einfachen Leute. Sie passten an Schürzen, Arbeitshemden, Alltagskleider. Ging einer verloren, fand sich immer ein ähnlicher in der Schatulle, der seinen Dienst übernehmen konnte. Man suchte nicht lang nach dem Vermissten, irgendwann wurde er mit Brotkrumen und Kartoffelschalen zusammengekehrt, notdürftig gereinigt und in die Schatulle geworfen, auf die rechte Seite, in das
große Fach zu all den anderen schlicht durchlöcherten Scheiben, Werktagsknöpfe, die nur eine Aufgabe hatten in
diesem Leben, nämlich durch ein Knopfloch zu schlüpfen und zwei Teile eines Kleidungsstückes zusammenzuhalten.
Auf der linken Seite des Kästchens residierten in separaten, mit rotem Samt ausgeschlagenen Zimmern die feineren
Leute. Da hatte jede Familie ihren Wohnsitz, gleichartige, gleichfarbene Knöpfe in groß und klein, die großen hatten
sich einmal über Brust und Bauch eines Abendmantels gereiht, die kleinen breite Manschetten der Ärmel geschlossen. Kugeln, Halbkugeln aus Silber und Elfenbein, keiner von ihnen war durchlöchert, durchbohrt.
Auf ihrer Unterseite hatten sie ein kleines metallenes Plättchen, und daran war eine Öse befestigt, damit man auch sie annähen konnte an Taft, Flanell und Seide. Bei Joseph fehlte diese Öse, sie war irgendwann einmal abgebrochen, diese einzige Stelle, die seinen Sternenhimmel mit Stoff verband.
Wenn aus dieser Gesellschaft einer verlorenging, dann lagen sie auf den Knien, das Dienstmädchen und die Köchin, die Erzieherin und der Hauslehrer, krochen über Parkett und Teppiche, tasteten unter Empire-Kommoden und Biedermeierschränken und suchten nach dem Verlorenen Knopf. Am eifrigsten suchte ich selber, und häufig drückte
sogar Paul, der jüngste meiner Brüder, die Bügelfalten seiner neuen Hosen platt. Wir machten ein Spiel daraus, jagten
um Sessel und Tischbeine, als sei so ein Knopf ein fliehendes Karnickel, wir stießen die Köpfe gegeneinander und
grinsten uns an, denn Paul kannte mein Geheimnis und hütete es. Wenn nämlich ich so glücklich war, den vermissten Knopf zu finden, so schloss ich schnell die Hand um diese Beute, und suchte eifrig weiter, bis man aufgab und sich mit
dem Verlust abfand, ich wusste, was dann stets geschah. Alle gleichgeformten Verwandten des Verlorenen wurden von
dem betreffenden Kleidungsstück abgeschnitten, bezogen einen Ruhesitz in der Schatulle, und ich hatte eine neue
Familie von höherem Stand. Immer fügten sie sich in Sippschaften und Großfamilien, ich erkannte die Ähnlichkeit von Vettern und Cousinen, was nicht blutsverwandt war, war angeheiratet und hing über drei Knöpfe wieder mit diesen zusammen. Nur Joseph nicht. Der war einzig und blieb allein und hatte keine Brüder.
Nicht einmal eine Öse hatte er an seiner Unterseite, somit bestand keinerlei Hoffnung, ihn jemals wieder mit Stoff zu verbinden. Hat er überhaupt einmal eine Öse gehabt? War er nicht so wenig mit den anderen verwandt, dass er nur äußerlich erschien wie ein Knopf, in Wahrheit aber keiner war, niemals einer gewesen war und nur an seiner Oberseite
als ein solcher auftrat, weil er denn doch irgendwo, wenn schon nicht an einem Kleidungsstück so in jener Schatulle,
ein Domizil haben musste. War es so? Es war nicht so. An seiner Unterseite verblieb die Stelle, wo die Öse abgerissen
war, eine Wunde, die eindeutig bewies, hier war einmal etwas gewesen, Joseph war ein Knopf wie die anderen Knöpfe
auf dieser oder jener Seite der Schatulle.
Ich gab ihm eine eigene Kammer, denn Joseph war nicht besonders beliebt. Er brachte Unruhe in das feste Gefüge der Sippschaften und Familien. Oft kollerten ein paar bislang nicht unangenehm aufgefallene Silber- oder Elfenbeinknöpfe
aus ihrem Stammsitz in Josephs einsames Domizil, es war als ob er sie anziehe, ja, einige der durchlöcherten Scheiben sprangen über die Barriere ins andre Abteil, in Josephs roten Samt, und manchmal, wenn ich nicht gut aufpasste, fiel er
mir gar selber in die rechte Hälfte, in das Gedränge der Durchbohrten, wo er doch überhaupt nicht hingehörte. Oder?
Einige gab es auf der samtenen Seite der Schatulle, die Joseph etwas weniger fremd schienen. Sie waren Schmuck
gewesen zwischen Rüschen und Falten, zur puren Zierde aufgenäht und hatten sich niemals durch die Enge eines Knopflochs zwängen müssen. War Joseph einmal einer von denen gewesen? Wenn ich auf seinen Sternenhimmel
blickte, glaubte ich es. Wenn er mir aber, mal wieder, unter die Durchlöcherten gefallen war und ich befremdlich
lange, darin wühlen musste, bis ich ihn endlich wiederfand, dann spürte ich, dass er sehr wohl wusste, was ein
Knopfloch war.
Einen bösen Traum hatte ich in meiner schönen Welt. Es kamen viele Gäste in das Haus meiner Eltern, und unter
diesen hatte ich Männer gesehen, die kaum Haare auf dem Kopf hatten, einige gar keine, nur einen ziemlich
ergrauten Streifen fast im Genick.
„Das ist so, wenn man älter wird“, hatte die Mutter erklärt und sogleich in meine erschrockenen Augen getröstet:
„Nur bei Männern. Deinen schwarzen Haaren wird nichts schlimmeres geschehen als dass sie grau werden.“
Das hatte mich nur wenig beruhigt. Paul also würden - vielleicht - die blonden Haare ausgehen, wie schrecklich,
wie furchtbar, wie vollkommen unvorstellbar. Das war mein böser Traum. Er wurde niemals Wirklichkeit. Paul verlor
seine Haare nicht. Er starb mit 21 Jahren an einem Sonntag im Winter.
Aber ich hatte auch einen herrlichen Traum. Ich musste nur Joseph aus der Schatulle nehmen, und schon spannen
und webten meine Gedanken einen Stoff um den Knopf, einen bunten Rock, und es war jener, den Jakob seinem Lieblingssohn Joseph schenkte.
Paul hatte mir die Geschichte von Joseph erzählt. Paul war gerne Jude. Damals konnte man einigermaßen unbeschadet
Jude sein und reich dazu. Von dem „Hepp! Hepp, Jud!“ das die anderen Kinder meinen Schwestern nachriefen, wusste
ich nichts, ich ging ja noch nicht zur Schule.
Damals geschah in Deutschland nichts Bedenklicheres, als dass unverhältnismäßig viele Dichter geboren wurden. Das freilich ist immer ein alarmierendes Zeichen, denn wenn die alle einmal so 20, 30, 40 Jahre alt sind, dann wollen sie ja
alle etwas zu dichten haben, etwas zu klagen, zu leiden, Lob- und Jubeljahre machen Bücher nicht voll und fett. Man
kann das also leicht vorhersagen: Wenn unverhältnismäßig viele Dichter geboren werden, dann müssen in 30, 40 Jahren
die schlimmsten Katastrophen geschehen. Wenn man sie nur erkennen könnte gleich in der Wiege, die neuen Dichter,
man könnte ihnen Schilfrohrkörbchen flechten und sie auf Flüssen aussetzen, man könnte sie wilden Tieren zum Fraße vor- oder sie rechtzeitig ins Feuer werfen. Aber - was wenn die Katastrophen nach 40 Jahren trotz der rechtzeitig gemordeten Dichter ausbrächen? Und keine Verse wären da, keine Reime, die das Ungeheuerliche wenigstens in
Strophen auffangen, der Nachwelt in die Lesebücher drucken, die lernt’s auswendig, behält die Reime, vergisst das
Unglück, ach, vielleicht doch, vielleicht hätte man mich doch rechtzeitig verbrennen sollen - auf welche Weise hätte
ich mehr, hätte ich weniger gelitten? 60 Jahre später brannten meine Bücher.
Damals brannte nichts als der schwarze Knopf in meiner Hand und das leuchtende Rot in Josephs buntem Rock, den
Vater Jakob ihm schenkte, und die Eifersucht in den Herzen seiner Brüder, die den Liebling des Vaters nach Ägypten verkauften, und den bunten Rock mit dem Blut eines Schafes tränkten und dem Vater sagten:
„Sieh, ist das nicht Josephs Rock? Das ist alles, was wir von ihm fanden. Ein wildes Tier muss ihn gefressen haben.“
Wusste ich, dass der bunte Rock, den ich mir erträumte, den ich um mich schlang, den ich am Hals verschloss mit
einem schwarzen Knopf, nachtschwarz mit goldenen Punkten, mit goldenen Punkten wie Sterne, wusste ich, dass die leuchtenden Farben durchtränkt waren vom Blut eines Schafes, vom Verbrechen der Brüder? Ich wusste es, aber ich
dachte nicht daran. Sonst wäre der Traum von Josephs buntem Rock nicht der schönste und der von Pauls Glatze nicht
der böseste meiner Träume gewesen.